SPP publiziert
Gemeinsam gegen die digitale Prekarisierung: Die Dialektik der Solidarität in der Gig Economy
von Jasmin Schreyer
Die Plattformisierung, als Teil einer langfristigen Transformation, die eng mit den Entwicklungen in den Kommunikationstechnologie sowie den Trends der Flexiblisierung, Prekarisierung, Deregulierung und Finanzialisierung zusammenhängt, hat unsere Vorstellungen von Erwerbsarbeit verändert. Die Gig Economy als Symbol dieses Wandels zeichnet sich somit durch ein Geflecht aus Unsicherheiten aus, die räumliche, zeitliche und soziale Dimensionen umfassen. Der quantitative Anteil von Plattformarbeit ist dabei zwar schwer zu bestimmen. Dennoch ist ihre qualitative Relevanz als ein Experimentierfeld für neue Formen digital vermittelter, organisierter und kontrollierter Arbeit bereits gut absehbar.
In der Gig Economy sind Beschäftigungsmodelle geprägt von temporären Tätigkeiten, den sogenannten „Gigs“, die durch kurzfristige Bindungen an verschiedene Auftraggeber charakterisiert sind. Arbeitgeber:innen nutzen algorithmisches Management zur Rationalisierung von Arbeitsaufträgen, was zu einem flexiblen und dynamischen digitalen Arbeitsmarkt führt. Dabei werden soziale Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit auf die Gig-Arbeiter:innen abgewälzt, während Plattformunternehmen sich als neutrale Intermediäre positionieren und traditionelle Arbeitnehmerrechte negieren. Die Handlungsmöglichkeiten der Gig-Worker:innen werden zunehmend eingeschränkt, wodurch sie weniger als individuelle Beschäftigte und mehr als austauschbare Dienstleistungen wahrgenommen werden.
Die Arbeitsbeziehungen, die oft außerhalb der regulären Schutzmechanismen stattfinden, verschärfen die strukturelle Schieflage der industriellen Beziehungen. Die Gig Economy steht somit exemplarisch für den neoliberalen Herrschaftsmodus der Prekarität und offenbart die Mechanismen zur Kontrolle der Arbeitskraft, die durch die Formung der Subjektivität in den sozialen Beziehungen vorangetrieben werden. Denn die zumeist als solo-selbständige agierenden Auftragnehmer:innen sind ja vordergründig ‚autonom‘. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Dynamiken, die solidarisches Handeln in solch einem fragilen Kontext ermöglichen.
Solidarität ist ein komplexes Konzept, das sowohl große anonyme Kollektive als auch kleine soziale Kontexte umfasst. Eines der zentralen Ergebnisse meiner Dissertation ist, dass die Dialektik der Solidarität nicht als statisches, fest umrissenes Konzept verstanden werden kann, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozess, der durch individuelle Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Unsicherheit genährt wird. Diese gemeinsamen Erfahrungen bilden eine fundamentale Grundlage für Solidarisierung, aus der kollektives Handeln hervorgeht. Die Dialektik der Solidarität als normativer Prozess interpretiert soziale Phänomene in einem historischen und kontextuellen Rahmen.
In meiner qualitativen Untersuchung zeigt sich, dass Gig Worker:innen in Verbindung miteinander treten, ihre Erfahrungen miteinander teilen und dadurch die Vergemeinschaftung (Weber) als ein Solidarisierungsprozess durch die aktive Anerkennung (Honneth) der Pluralität (Arendt) unter den Beschäftigten in Solidarität transformiert. In der Heterogenität der Belegschaft spiegelt sich nicht nur eine Vielfalt an Identitäten wider, sondern auch eine Vielzahl an Bedürfnissen und Perspektiven. Diese Unterschiede sind essenziell, um Solidarität als inklusiven Prozess zu gestalten, der Raum bietet für verschiedenste Anliegen und unter den spezifischen Bedingungen der Gig Economy funktioniert. Ich argumentiere, dass Solidarität sich gerade in der Fähigkeit zeigt, unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen und die damit verbundenen Spannungen aktiv zu gestalten.
Die Dialektik der Solidarität, die aus der Diversität der Beschäftigten – geprägt durch unterschiedliche Hintergründe und Motivationen – hervorgeht, ist ein komplexer und dynamischer Prozess. Vorhandene Widersprüche und Wechselwirkungen in den Beziehungen zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen bergen das Risiko des Scheiterns, wie die in meinen Artikeln beschriebenen Herausforderungen verdeutlichen.
In meinem ersten Artikel „Algorithmic Management versus Organising Protest and Co-determination? The Case of Foodora/Lieferando in Germany“ (Schreyer 2021a) analysiere ich, wie Gig Worker:innen trotz der rigiden Kontrollen eine Gegenmachtperspektive entwickeln und virtuelle Kommunikationsräume schaffen, in denen sie sich über Ungerechtigkeitserlebnisse austauschen. Diese Solidarisierung als Haltung wird in embryonale Solidarität überführt und mündet in Proteste und erste Versuche zur Institutionalisierung von Mitbestimmungsstrukturen.
Im zweiten Artikel Algorithmic work coordination and workers’ voice in the COVID-19 pandemic: The case of Foodora/Lieferando“ (Schreyer 2021b) untersuche ich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die prekären Arbeitsbedingungen und die Rolle der Betriebsräte für den Gesundheitsschutz. Die limitierten Kommunikationsstrukturen innerhalb der Plattform verstärkten die Unzufriedenheit der Belegschaft und schufen den Anreiz zu kollektivem Widerstand, um grundlegende Schutzmaßnahmen durchzusetzen. Trotz der Herausforderungen bleibt die Solidarisierung fragil und hinfällig ohne die Anerkennung der Pluralität unter den Gig Worker:innen.
Der dritte Artikel „Brüchige Solidarität in der Gig Economy: Zwischen Zusammenhalt und Individualismus“ (Schreyer und Feist 2024) thematisiert, wie durch das Bündnis „Liefern am Limit“ eine selbstorganisierte Solidarisierung unter den Gig Worker:innen erreicht wird. Hier zeigt sich, wie die Arbeitnehmer:innen durch Social Media und gemeinsame Anliegen solidarische Strukturen entwickeln können. Die aktive Anerkennung der Unterschiede unter den Beschäftigten ist entscheidend, um den Übergang von Solidarisierung zu stabiler Solidarität zu gewährleisten.
Der vierte Artikel „Chained to the App: German Bike Couriers Riding into Digital Capitalism“ (Schreyer 2024) nimmt die komplexen Machtverhältnisse und das Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Autonomie in der Plattformökonomie in den Blick. Ich argumentiere, dass Solidarität nicht nur auf materiellen Interessen beruht, sondern auch emotionalen Bindungen und der aktiven Anerkennung von Differenzen bedarf. Diese Erkenntnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, wie Solidarität in einer zunehmend komplexen und dynamischen Arbeitslandschaft entstehen kann.
Die vier Artikel bilden eine narrative Linie: von der ersten Solidarisierung über die Krise der Pandemie bis hin zur institutionalisierten Selbstorganisation – und zeigen, wie Solidarität sich nicht aus der Einheit, sondern aus der Anerkennung der Differenz entwickelt.
Insgesamt zeigt sich, dass die Dialektik der Solidarität in der Gig Economy ein dynamischer und fortlaufender Prozess ist, der ständiger Reflexion und aktiven Auseinandersetzung bedarf, um kollektive Handlungsfähigkeit zu fördern und zu erhalten. Ihre Kraft liegt darin, dass sie Differenz nicht überwindet, sondern als Bedingung der Möglichkeit für gemeinsames Handeln anerkennt – und so eine Solidarität ermöglicht, die nicht homogen, sondern plural, reflektiert und politisch wirksam ist. In diesem Sinne ist die Dialektik der Solidarität kein bloßes soziales Phänomen, sondern ein theoretisches und normatives Potential, das die Transformation der Arbeitswelt im digitalen Kapitalismus mitdenkt – nicht als utopische Illusion, sondern als konkrete, handlungsorientierte Perspektive.
Für eine tiefergehende Lektüre:
Schreyer, Jasmin, 2021a. Algorithmic management versus organising protest and co-determination? The case of Foodora/Lieferando in Germany. STUDI ORGANIZZATIVI, 1(1), 105–128. doi:10.3280/SO2021-001005.
Schreyer, Jasmin, 2021b. Algorithmic work coordination and workers’ voice in the COVID-19 pandemic: The case of Foodora/Lieferando. Work Organisation, Labour & Globalisation, 15(1), 69–84. doi:10.13169/workorgalaboglob.15.1.0069.
Schreyer, Jasmin, 2024. Chained to the app: German bike couriers riding into digital capitalism. tripleC: Communication, Capitalism & Critique: Open Access Journal for a Global Sustainable Information Society, 22(1), 265–291. doi:10.31269/triplec.v22i1.1463.
Schreyer, Jasmin und Feist, Nelli, 2024. Brüchige Solidarität in der Gig Economy: Zwischen Zusammenhalt und Individualismus. Arbeits- und Industriesoziologische Studien, 17(1), 23-37. doi:10.21241/SSOAR.94276.