SPP diskutiert

Gestaltung von Digitalisierung in der Arbeitswelt – (K)ein Blick auf Tarifverträge?

von Nele Dittmar

In unserem Forschungsprojekt „Tarifpolitik in der Transformation“ (gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und im DFG-Schwerpunktprogramm Digitalisierung der Arbeitswelten assoziiert) untersuchen wir die tarifpolitische Gestaltung aktueller Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt, insbesondere auch im Zusammenhang mit Digitalisierung.

Tarifverträge finden bisher recht wenig Beachtung in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung zur Gestaltung von Digitalisierung in der Arbeitswelt in Deutschland (s. aber z.B. Dittmar et al. 2023). Die Schwerpunkte der Forschung lagen bisher einerseits in der „Arena der Betriebsverfassung“ (Müller-Jentsch 2017). Andererseits wurde mit der entstehenden Plattformökonomie ein Bereich in den Blick genommen, der sich der Regulierung in den etablierten Arenen der Arbeitsbeziehungen in Deutschland potenziell entzieht. Demgegenüber wird der Blick nur sehr selten in die „Arena der Tarifautonomie“ (Müller-Jentsch 2017) gelenkt und gefragt, wie Entwicklungen im Zusammenhang mit Digitalisierung in Tarifverträgen gestaltet werden (könnten).

Dies ist aus meiner Sicht erstaunlich, da Tarifverträge – trotz abnehmender Tarifbindung in den letzten Jahrzehnten – noch immer eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in Deutschland spielen. Viele etablierte Themen der Tarifpolitik, zu denen vielfältige Regelungen bestehen, sind auch mit Blick auf Digitalisierung unvermindert relevant, z.B. Fragen der Arbeitszeit oder der Qualifizierung. In vielen Branchen gibt es auch seit Längerem Rationalisierungsschutztarifverträge, die Regelungen zum Schutz der Beschäftigten vor den Auswirkungen technologischen Wandels treffen und nach wie vor in Kraft sind.

Darüber hinaus gibt es durchaus auch neuere, explizit so genannte Digitalisierungstarifverträge. Diese enthalten z.B. Regelungen, die denen in älteren Rationalisierungsschutztarifverträgen vergleichbar sind, u.a. zur Arbeitsplatzsicherung oder zur Qualifizierung von Beschäftigten. Zuweilen werden auch neue Gremien zur Beteiligung der Beschäftigten bzw. ihrer Vertretungen bei Digitalisierungs- oder Automatisierungsvorhaben geschaffen. Auch gibt es einige Tarifverträge zu neuen Formen des mobilen Arbeitens, die durch digitale Technologien ermöglicht werden (Dittmar 2024).

In den 1970er und 1980er Jahren stand Tarifpolitik zum damals stattfindenden technologischen Wandel meinem Eindruck nach stärker im Fokus industriesoziologischer Forschung (z.B. Bispinck 1984; Müller-Jentsch et al. 1997). Während Bispinck (1984) dies eher noch als Anspruch formuliert, sehen Müller-Jentsch et al. (1997, S. 85) in den 1980er Jahren eine Weiterentwicklung von frühen Rationalisierungsschutztarifverträgen, die „weitgehend der Logik einer primär quantitativ-monetären Tarifpolitik“ folgten, hin zu Tarifverträgen, die „deutlicher auch Qualifizierungs- und Gestaltungsansprüche der Beschäftigten“ aufnehmen und normieren.

Im Zuge dieser Weiterentwicklung der traditionellen Rationalisierungsschutzpolitik beobachteten Müller-Jentsch et al. (1997, S. 224) allerdings auch tendenziell eine Verlagerung der Gestaltung von der Branchen- auf die Unternehmensebene und eine Aufwertung der betrieblichen Akteure. Auch heute in Bezug auf Digitalisierung lässt sich argumentieren, dass die betriebliche Ebene „the most significant site for engaging with digitalisation“ (Haipeter 2020, S. 243) ist, da neue Technologien auf dieser Ebene eingeführt werden und Effekte auf Beschäftigte haben. Betriebsräte verfügen überdies über verschiedene Mitbestimmungs-, Beratungs- und Informationsrechte, die im Kontext von Digitalisierung relevant sind. Vor diesem Hintergrund ist ein Fokus der Forschung auf die betriebliche Ebene bei der Gestaltung von Digitalisierung durchaus begründet.

Allerdings kommen Haipeter et al. (2024, S. 04) aktuelle Forschungsergebnisse resümierend zu dem Schluss, dass Betriebsräte mit Digitalisierung eher reaktiv und im Sinne eines „traditionellen“ Rationalisierungsschutzes umgehen, mit dem Ziel, negative Folgen von Digitalisierung für Beschäftigte zu verhindern. Zwar finden sich auch Beispiele für Betriebsräte, die proaktiv und umfassend Digitalisierung gestalten, gerade Betriebsräte in kleinen Unternehmen sind aber häufig von der Komplexität und Geschwindigkeit technologischen Wandels überfordert.

Tarifverträge könnten hier unterstützend wirken, indem sie einen Rahmen für die Gestaltung setzen. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Forschungsinteresse an Tarifverträgen zu Digitalisierung einerseits normativ begründen. Empirisch zeigt sich außerdem nicht nur, dass es – wie ausgeführt – aktuelle Tarifverträge zu Digitalisierungsthemen gibt, sondern auch, dass diese oft Rahmenregelungen enthalten, die auf betrieblicher Ebene weiter ausgestaltet werden können bzw. sollen. Ohne den tarifvertraglichen Rahmen zu berücksichtigen, lässt sich daher auch die stattfindende betriebliche Gestaltungspraxis zu Digitalisierung nur unvollständig verstehen.

Insgesamt spricht daher meines Erachtens Einiges dafür, auch Tarifverträge mit in den Blick zu nehmen, wenn es um die Frage der Gestaltung von Digitalisierung in der Arbeitswelt geht.

 

Literatur

Bispinck, R. (1984): Rationalisierung und gewerkschaftliche Tarifpolitik. In: Briefs, U./Fehrmann, E./Hickel, R. (Hrsg.): Technologische Arbeitslosigkeit. Ursachen, Folgen, Alternativen. Hamburg: VSA-Verlag: 145-167.
Dittmar, N. (2024): Tarifverträge zu mobiler Arbeit. Tarifpolitische Gestaltung einer digitalisierten Arbeitswelt? In: Arbeit, 33(4), 141-161. https://doi.org/10.1515/arbeit-2024-0012
Dittmar, N./Böhnke L./Ngyuen T. (2023): Digitalisierung und Tarifpolitik. Die Digitalisierung der Arbeitswelt und ihre tarifpolitische Gestaltung. Study Nr. 485. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
Haipeter, T. (2020): Digitalisation, unions and participation: the German case of ‘industry 4.0’. In: Industrial Relations Journal, 51(3): 242-260.
Haipeter, T./Wannöfel, M./Daus, J./Schaffarczik, S. (2024): Human-centered AI through employee participation. In: Frontiers in Artificial Intelligence, 7: 1272102, 01-13. https://doi.org/10.3389/frai.2024.1272102
Müller-Jentsch, W. (2017): Strukturwandel der industriellen Beziehungen. ‚Industrial Citizenship‘ zwischen Markt und Regulierung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Müller-Jentsch, W./Sperling, H. J./Weyrather, I. (1997): Neue Technologien in der Verhandlungsarena. Schweden, Großbritannien und Deutschland im Vergleich. München/Mering: Rainer Hampp Verlag.

 

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