Let´s talk about: (Un)Sichtbare Gender Dynamiken in der Forschung
„Gemeinsam mit einem Kollegen betrat ich das Büro eines Interviewpartners. Dieser ergriff zuerst die Hand meines Kollegen und wechselte einige Worte mit ihm, bevor er mich überhaupt begrüßte. Und dass, obwohl ich vorher den Kontakt hergestellt und als Verantwortliche ein Interview angefragt hatte.“
Die Macht informeller Beziehungen und Netzwerke ist bekannt und in den Gender Studies ein ausführlich bearbeitetes Thema. Sogenannte Männerbünde, die dafür sorgen, dass qua sozialer Ähnlichkeit Personen mit (Gender-)Attributen als gleich- bzw. höherwertig anerkannt werden, führen beispielsweise zu Situationen wie im Eingangsbeispiel beschrieben. Eine promovierte Wissenschaftlerin verabredet sich mit einem Interviewpartner und nimmt ihren wissenschaftlichen Mitarbeiter mit zum Termin. Obwohl sie den Kontakt herstellte und den Raum als erste betrat, begrüßte der Gesprächspartner zuerst ihren männlichen Kollegen, wechselte ein paar Worte mit ihm und widmete sich erst dann der Forscherin. Solche und ähnliche Situationen, wie Einladungen zum Kaffee oder Abendessen nach einem Arbeitstermin, „witzige“ Sprüche mit sexistischem Inhalt im Büro, gemalte Phallus-Symbole in Meetings, schlichte Ignoranz oder unangebrachte Aufforderungen in fachlichen Gesprächen erleben Frauen und genderqueere Personen im Arbeitsalltag häufiger als es den meisten wahrscheinlich bewusst ist. Trotzdem werden diese Erfahrungen selten thematisiert und erscheinen vielleicht auch deswegen weniger häufig, als sie es tatsächlich sind. Als Wissenschaftlerinnen haben wir eine Vielzahl solcher Situationen in unserem Arbeitsalltag erlebt. Wir, das ist ein Autorinnenkollektiv, das sich aus dem Netzwerk „Frauen in der Wissenschaft“ des DFG-Schwerpunktprogramms 2267 (SPP) zusammengefunden hat. Über einen längeren Zeitraum hinweg, haben wir uns aus unterschiedlichen Anlässen und Perspektiven heraus immer wieder gefragt, wie uns Verhältnisse der Ungleichheit, der Verunsicherung und der Übergriffigkeit im Alltag als Forscherinnen begegnen, weshalb darüber selten gesprochen wird, manchmal nur schwer darüber gesprochen werden kann und wieso es wichtig ist, es doch zu tun. Zur Illustration dieses Phänomens und des Unbehagens, das mit diesen Erfahrungen einhergeht, setzten wir uns autoethnographisch mit dem Erlebten auseinander, um nachzuvollziehen was „da“ eigentlich passiert.
Frauen in der Wissenschaft
Es ist wahrscheinlich keine Überraschung: Frauennetzwerke werden nicht nur als Gegenpol zu Männerbünden gegründet, sie werden auch dazu genutzt, darüber zu sprechen, was im Arbeitsalltag erlebt wird. Sie sind Orte potenzieller Zusammenarbeit, Vernetzung, Überwindung von Stereotypen, Orte an denen sich „etwas“ entwickeln kann – häufig in Gesprächen, in denen Frauen eben nicht als Personen sprechen, sondern als diejenigen, die eine Profession ausüben, in unserem Fall als Wissenschaftlerinnen. Es ist wichtig, dass es diesen Raum gibt, der aktiv von Frauen gestaltet werden kann. Auch wir haben uns beim Aufbau des Netzwerkes „Frauen in der Wissenschaft“ und im Gespräch über gemeinsame Interessen und Ziele gefragt, wie, wo und wann (unser) Gender für uns im Wissenschaftssystem eine Rolle spielt. Ist es Teil unserer Forschung(sprojekte)? Ist es Teil unserer Forschungsumgebung? Der erste Eindruck war: das Thema Gender wurde nur in wenigen Forschungsprojekten des DFG-Schwerpunktprogramms – inhaltlich und/oder forschungspraktisch – mitgedacht. Nach einer detaillierteren Analyse unserer eigenen Forschungsprojekte hinsichtlich verschiedener Genderaspekte, stellten wir entgegen dem ersten Eindruck fest, dass Gender in vielen Projektzusammenhängen implizit und alltäglich eine Rolle spielt bzw. spielen kann.
Beispielsweise werden in einem Projekt Differenzverhältnisse und Ungleichheit angerissen sowie sensibilisiert eingebunden; jedoch weder als eigene Fragestellung noch als Teil der Projektarbeit reflektiert. In anderen Projekten zeigten sich wiederkehrend Gender-Ungleichgewichtverhältnisse. In Softwareunternehmen resultiert es etwa darin, dass männlich gelesene Entwickler eine Softwarelösung für ein Arbeitsfeld bauen, in dem überwiegend weiblich gelesene Personen arbeiten. In einem anderen Fall mündet es darin, dass (fast) alle Stellen mit personalrechtlicher Führungsverantwortung und strategischen Entscheidungskompetenzen von Männern besetzt waren. Nicht zuletzt führte die Gender-Ungleichverteilung zugunsten männlicher Informatiker dazu, dass Digitalisierungsforscher*innen vorrangig männliche Mitarbeitende interviewten, sodass sich vor allem diese Perspektive in den Daten wiederfinden lässt.
Während dieses Austauschs kam auch erstmals die Frage nach der Wirkmächtigkeit von Genderkonstruktionen in unseren wissenschaftlichen Kontexten auf. Besonders die anfangs beschriebene Situation einer Forscherin aus ihrem Arbeitsalltag, in der sie als Person mit Leitungsfunktion und hoher Qualifikation weniger beachtet wurde als ihr männlicher Kollege sorgte bei der Mehrzahl der Teilnehmerinnen für ein stilles und zustimmendes Nicken.
Sichtbare Unsichtbarkeit als Erkenntnisquelle
Das stille Nicken als sichtbare Zustimmung und Kenntnis über vermeintlich unsichtbare Situationen – auch alltägliche –, die erlebt und selten in anderen als geschützten Räumen diskutiert werden, war ein wesentlicher Punkt unseres Austauschs. Wir führten viele Diskussionen zu dem Thema und der Frage, wie sich diese stille Zustimmung ändern und gleichzeitig etwas zur Entwicklung des Wissenschaftssystems beitragen lässt. Klar ist jedoch: Das Wissenschaftssystem steht hier noch ganz am Anfang, so kommt es in Arbeitszusammenhängen bspw. vor, dass eine Forscherin darum gebeten wird, sich als weiblich gelesene Expertin um Genderthemen und das Gendern in der Textarbeit zu bemühen oder Forscherinnen bei informellen Barbesuchen mit Projektpartnern mit sexistischen Bemerkungen und Witzen konfrontiert werden.
Das zustimmende Nicken, die Parallelität von ähnlichen Erfahrungen und das Beobachten bzw. Bearbeiten von Ungleichheit gewannen im Laufe der letzten Jahre in unseren Diskussionszusammenhängen mehr Gewicht. Beispielsweise in Form eines Karriere-Workshops, der sich mit der Frage beschäftigte, welche Schritte Wissenschaftlerinnen gehen müssen, wenn sie eine Wissenschaftslaufbahn anstreben. Zusammen mit einer Coachin und einer Gesprächspartnerin kamen wir mit Hilfe von Statistiken zur Repräsentanz von Frauen in der Wissenschaft, biografischen Erzählungen und Lebensläufen, über harte und softe Faktoren für Professuren in Deutschland ins Gespräch und setzten uns in Rollenspielen mit der Wirkmächtigkeit und dem Einfluss von Gender auf Karrierewege in der Wissenschaft auseinander.
Let’s write about it
Eine wichtige Form der Verständigung im Wissenschaftssystem ist Text: Die Vertextlichung von Erlebtem und Gesehenem als Grundlage für Analysen und wissenschaftliche Beiträge, bewegt sich immer in der Spannung zwischen Beschreibungen und Erklärungen des Erforschten und der Weiterentwicklung der Wissenschaft selbst. Nicht ohne Grund findet sich im FQS eine Debatte, die unter dem Titel „Von uns selbst sprechen wir! Erkundungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens“ dazu anregt, eigene Forschungsumgebungen und -bedingungen deutlicher zu reflektieren. In einem selbstorganisierten Schreibworkshop, entwickelten wir eine unsere Beobachtungen reflektierende Beitragsidee für den Sammelband des SPPs. Wir diskutierten erste Ideen, wie unsere spezifischen Erfahrungen als Frauen im Feld der Digitalisierungsforschung verschriftlicht werden können. An dieser Stelle wurde der rote Faden der vergangenen Treffen und Gespräche erstmals deutlich: Die Gemeinsamkeit unserer Erfahrungen und erlebten Situationen sind Dynamiken, in denen das Gender von Forscherinnen fremdbestimmt in den Vordergrund gerückt und ihre berufliche Funktion weniger adressiert und wahrgenommen wird. Diese Dynamiken, die uns immer wieder direkt wie indirekt im Wissenschaftssystem begegnen, zeigen sich beispielsweise, wenn eine Forscherin für ethnografische Begleitungen in ein Büro kommt und auf dem ihr zugewiesenen Schreibtisch eine Zeitschrift mit sexistischen Abbildungen von weiblich gelesenen Personen liegt. In dieser Situation parallelisieren sich die forschungspraktische Positionierung im Feld und die Positionierung in ihrem gelesenen Gender. Die Wirkmacht von Genderkonstruktionen wird in dieser Erfahrung direkt Teil der Begleitung. Unweigerlich hat das Auswirkungen auf Forschungsverläufe aber auch auf die Forscher*innen selbst.
Um unsere Erfahrungen und die verschiedenen Aspekte des Themas zu synthetisieren, fertigten wir vignettenförmige Erfahrungsberichte und Situationsbeschreibungen an. Schnell wurde deutlich, dass die vermeintlich individuellen Erfahrungen keine Einzelfälle darstellen, sondern vielmehr ein Phänomen umklammern, das strukturell verankert, die Arbeit der Forschung begleitet. Wir nahmen diese Beobachtungen zum Anlass, uns in unserem Beitrag für den Sammelband systematischer mit dem Phänomen zu befassen und die Beobachtungen tiefgehender als in Alltagsgesprächen mit Kolleg*innen zu analysieren (Unser Sammelbandbeitrag wird im Frühjahr 2024 veröffentlicht).
Unmittelbar nach dem angeleiteten Workshop trafen wir uns zu einem internen Vignettenworkshop, auf dem jede Teilnehmerin zwei bis drei Erlebnisse als Vignetten vorstellte und ihre Interpretation und Lesart der Situation skizzierte. Die Vignetten dienten zunächst dazu, das autoethnografisch Erlebte in schriftlich fixiertes Datenmaterial umzuwandeln. Inhaltlich führten die Erfahrungen von der in vielen Diskussionszusammenhängen der Wissenschaft eingeübten und unterrepräsentierten Aufmerksamkeit für Wortbeiträge weiblicher Forscherinnen bis hin zu situativen Erfahrungen, die bspw. skizzieren, wie Sexismus in Interviewsituationen Interaktionsdynamiken beeinflusst oder Feldbegleitungen im Pflegebereich in Situationen münden, in denen die Forscherin mit Visualisierungen nackter Frauenkörper und sexueller Belästigung konfrontiert ist. Auch das Spektrum der Artefakte mit Hilfe derer diese Adressierung stattfindet ist breit: So gibt es visuelle Skizzen und Abbildungen weiblicher und männlicher Körper(teile) – meist in binären Unterscheidungsmerkmalen dargestellt, Blicke und Gesten, Wortbeiträge und Handlungen, die auf bestimmte genderbezogene Rahmungen von Situationen hinweisen.
Durch das reflektierende Auseinandersetzen mit den Erfahrungsvignetten wurde auch klar, dass es wichtig aber nicht hürdenlos ist, ein (wissenschaftliches) Gespräch über dieses Thema zu führen: Es sind persönliche Erfahrungen. Es ist ein Gespräch, das mit viel Sensitivität und Offenheit geführt werden muss. Es sind Themen, Wörter und Erfahrungen, die mit Scham besetzt sind. Es geht um Themen, die bislang nicht als selbstverständlich diskutiert und in unsere methodischen Reflexionen eingebunden werden. Im Wissenschaftssystem sprechen wir vor allem über Daten und spannende Beobachtungen aus dem Feld, recht selten aber über unsere dabei gemachten Erfahrungen. Um unser autoethnografisches Datenmaterial besser zu begreifen, untersuchten wir die verschriftlichte Empirie auf Facetten und Mechanismen der Adressierung von Forscher*innen als gelesene Frauen unter der übergeordneten Fragestellung nach der (Un)Sichtbarkeit wirkmächtiger Genderkonstruktionen im Forschungsprozess. Dabei tauchten viele Dynamiken auf, die wir aus Beiträgen der Genderforschung kennen: Marginalisierung, Diskriminierung, Sexismus oder Intersektionalität. Diese Facetten und Mechanismen stellen für sich je eigene, komplexe und vielfältige Phänomene dar, kumulieren aber, unserer Empirie folgend, in einem Setting, das dafür noch wenig sensibilisiert ist: Im Wissenschaftssystem. Daher haben wir uns als Autor*innenkollektiv schon zu Beginn des Schreibprozesses viele Gedanken gemacht, wie wir über dieses Thema ins Gespräch kommen wollen.
Komplexität, Facetten und Zersplitterung
Viele Erfahrungen und Beobachtungen, die wir in unseren Forschungskontexten machen, führen zusammenfassend auf die offene Frage hinaus, wie und inwiefern wir als gelesene Frauen in Forschungskontexten situiert sind und interaktiv situiert werden. Dabei geht es weniger um die quantitative Frage danach, wie viele Frauen in der Forschung bzw. Wissenschaft tätig sind – auch wenn die Kennzahlen zeigen, dass Frauen nach wie vor unterrepräsentiert sind, ganz zu schweigen von Angaben über andere Geschlechtsidentitäten. Neben statistisch feststellbaren ungleichen Verhältnissen zwischen Geschlechtern in Forschungskontexten, möchten wir stattdessen qualitative Nuancen und Facetten von autoethnografischen Erfahrungen aufzeigen, in denen wir als gelesene Frauen in unterschiedlichen Kontexten der Wissenschaft situiert wurden.
Ein Kennzeichen des Phänomens ist seine Zersplitterung in einzelne kleine Problemlagen, Dynamiken, Wissensbestände und situative Konstruktionen. Viele Vignetten zeigen, dass sich Sexismus, Diskriminierung, situative Übergriffigkeit, Ungleichbehandlung und weitere Dynamiken in unterschiedlicher Kombination bei den jeweiligen Erfahrungen parallelisieren. Wir möchten unseren Beitrag deshalb mit drei Gedankengängen abschließen, in denen das oben Skizzierte anknüpfen und an Präzision gewinnen kann. Das Wissen, so die Hoffnung, ermöglicht Stellen und Situationen zu finden, an denen angesetzt werden kann mit Fragen nach Veränderung, Schutz, Vorbereitung und Reflexion. Gleichzeitig ist wichtig mitzudenken, dass die Gedankengänge und eingebrachte Perspektiven von in der deutschen bzw. mitteleuropäischen Wissenschaft sozialisierten Autorinnen stammen und daher insbesondere Eindrücke aus dieser Welt beschreiben. Dennoch können und sollen sie als Einladung dienen, eigene Erfahrungen zu reflektieren und zu überlegen, inwiefern Genderkonstruktionen im eigenen Wirken vorgenommen werden.
Kontur und Umfang.
Womit haben wir (wir, Personen des Wissenschaftssystems bzw. allgemeiner, Personen im Erwerbsleben) es eigentlich zu tun, wenn wir uns mit diesen Erfahrungen beschäftigen? Die Erfahrungen und geteilten Beobachtungen deuten ein Phänomen an, das bislang wenig beschrieben wurde und wenig Kontur besitzt. Der erste Gedankengang richtet sich daher entlang der Frage aus, wie das Beobachtete konturiert werden kann. Wie, wann und wo treten Genderkonstruktionen in Forschungsprozessen auf? Wie gestalten sich Genderkonstruktionen und welche Auswirkungen haben sie auf einzelne Prozesse in der Forschung? Was ist der gemeinsame Nenner der geteilten Erfahrungen? Eine erste noch tastende Suche nach Gemeinsamkeiten zeigt, dass wir in dem „fremdbestimmten“ Modus der Situationen, also in dem von „außen“ (ungefragt) an Forscherinnen adressierten Genders eine Gemeinsamkeit der Erfahrungssituationen sehen und es meist (digitale) interaktive Settings sind, in denen wir diese Erfahrungen machen. Diese Gemeinsamkeiten sind mitunter kein Alleinstellungsmerkmal; es sind Charakteristika von Situationen, die auch alltägliche Situationen kennzeichnen (s. Aktualität und Präsenz). Eine Gemeinsamkeit scheint uns jedoch sehr spezifisch, denn unser Kontext ist die Erwerbsarbeit im Wissenschaftssystem. Trotz dieser ersten Gemeinsamkeiten, bleibt die Kontur des vorliegenden Phänomens weiterhin unscharf. Ein an unsere ersten Deutungen anschließender Schritt wäre daher die qualitative Erfassung und Systematisierung von Erfahrungen, die sich das Ziel setzt, das Phänomen umfassend soziologisch zu beschreiben, um neue und differenzierte Perspektiven zu entwickeln. Das Ziel der Beschäftigung mit der sichtbaren Unsichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft ist demnach nicht ausschließlich Veränderungen anzukurbeln und Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, sondern auch ein differenziertes Wissen über das Phänomen zu erarbeiten.
Die Beschäftigung damit wäre keineswegs folgenlos: Denn daran anschließend gerät die konkrete empirische Forschungsarbeit in den Blick. Der Umfang der durch dieses Phänomen ausgelösten Folgeprobleme richtet sich entlang vieler Prozesse der Forschungsarbeit aus. Empirische Forschung gilt als elementarer Kern wissenschaftlicher Arbeit und prägt den Arbeitsalltag von Wissenschaftler*innen im besonderen Maße. Dies zeigt nicht nur die Relevanz der Frage danach, inwieweit die Dynamiken unsere Arbeit beeinflusst, sondern auch, dass es viele Strukturen gibt, die diesen Prozess begleiten. Fremdbestimmtes Konstruieren und Adressieren von Gender sind Teil der Forschungsarbeit und können an allen Stellen des Forschungsprozesses – in qualitativen Erhebungssituationen, bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Texte oder der Vergabe von Drittmitteln sowie in informalen Interaktionen mit dem Team oder Forschungspartner*innen – erfolgen. Die Forschungslandschaft ist geprägt von Taktiken weiblicher Forscherinnen, die fremdbestimmte Genderkonstruktionen und Reduktionen auf ihre Weiblichkeit zu vermeiden versuchen. Es erscheint relevant, den Umfang des Phänomens zu reflektieren, die konkreten Bereiche und Prozesse zu präzisieren und zu fragen, ob es abseits von konkreten Verhaltensstrategien Schranken gibt, die es einhegen. Wenn ja, wie gestalten sich diese Schranken und wie könnten sie aussehen?
Aktualität und Präsenz.
Wir haben es mit Themen zu tun, die bei weitem nicht neu sind! Aber sie sind immer noch und immer wieder aktuell. Die aufgemachten Problemlagen sind nicht ausschließlich in der Forschung zur digitalen Transformation in bestimmten Disziplinen vorzufinden, sie sind Teil des alltäglichen Lebens, der alltäglichen Arbeit. Ein zweiter Gedankengang begreift deswegen das vorliegende Phänomen als eines, das durch seine Präsenz als ein allgegenwärtiges, viele Bereiche betreffendes und deswegen relevantes Phänomen wahrgenommen werden sollte. Die Problemlagen zeigen sich vielfältig und großflächig in der gesamten Gesellschaft, da sie in Interaktionen der Arbeitswelt auftreten, sei es in Medienhäusern, der Polizei, in Kindertagesstätten, Schulen, Unternehmen oder anderen Organisationstypen. Es ist ein Problem, das die Arbeit im Allgemeinen betrifft und damit auch unsere alltägliche Arbeit. Der Denkanstoß, das Phänomen als eines zu begreifen, das den Arbeitsalltag begleitet und nicht als eines, das nur für die Wissenschaftstätigkeit zutrifft, zeigt seine Brisanz und trägt zur inhaltlichen Aufarbeitung bei. Umso interessanter ist, dass bislang nur wenige Bestrebungen innerhalb der Wissenschaft offensiv die Auseinandersetzung mit dem Thema prägen. Daher ist auch danach zu fragen, wie auf Basis allgemeiner Wissensvorräte, der spezifische Kontext des Wissenschaftssystems dazu beiträgt und dazu beitragen kann, mit den Erfahrungen umzugehen, sie aus dem Verborgenen zu holen und sich reflektierend damit auseinander zu setzen.
Blickwinkel und Heterogenität.
Auch das Wissenschaftssystem sollte sich nicht dem entziehen, was bereits deutlich ist: Bestehende Forschungszusammenhänge, -methoden und -kontexte sind durch männliche Strukturen als Norm geprägt; sie finden ihren Ursprung in männlich konnotierten Bezügen und wurden über die Zeit entlang veralteter Idealbilder ausgerichtet. Ein wichtiger Blickwinkel für die Frage, wie die Wirkmächtigkeit von Genderkonstruktionen in einzelnen Forschungssituationen beschaffen ist und wie diese alternativ gestaltet werden müssten, ist, sich der Kritik an der männlichen Normsetzung anzunehmen und darüber zu sprechen, wie sich die Forschungspraxis je nach Gender der forschenden Person verändert. Der Diskurs sollte daher auch in eine Richtung geöffnet werden, die die Vielfalt von Geschlecht und Vielfalt von Lesarten des Geschlechts anerkennt. Dabei geht es nicht darum, Differenzen zwischen verschiedenen Gendern aufzuzeigen und Hierarchisierungen vorzunehmen, sondern eben jene Ordnungen zu brechen und vielfältige Merkmale für die Durchführung und Reflexion von Forschungsprozessen fruchtbar zu machen. Das Wissenschaftssystem kann durch diesen Blickwinkel auf Wissenschaftler*innen weitere Perspektiven hinzugewinnen und seine Erkenntnissuche ausbauen.
Oben deutet sich bereits an: Es geht um die Frage der Heterogenität des Phänomens und in welcher kombinatorischen Gestalt es auftritt. Das heißt auch, fremdbestimmte Adressierungen reduzieren sich zumeist nicht auf die Konstruktion von Gender, sondern werden ergänzt durch weitere zugeschriebene Attribute wie das Alter, die Sexualität, die Herkunft, die Qualifikation oder das Aussehen. Eine junge Frau wird anders angesprochen als eine ältere Frau, die ein Professorinnenamt innehat. Und wie das Eingangsbeispiel zeigt, wird einem jungen Mann ohne abgeschlossener Promotion manchmal mehr Kompetenz zugeschrieben als einer jungen Frau mit Doktortitel.
Wie wir mit der sichtbaren Unsichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft und mit ihr als Erkenntnisquelle umgehen, bleibt eine offene Frage und auch eine offene Aufforderung.
Das folgende Zitat von Caroline Arni fasst die Heterogenität des Phänomens treffend zusammen:
„«Frau» ist ein Zusammenhangsbegriff und es geht um die Analyse einer Situation. Diese Situation ist nicht einheitlich: Hier kommt Intersektionalität ins Spiel – nicht als Rechnung, die immer schon vorweg gemacht ist, sondern als Frage nach den immer spezifischen Verhältnissen.“
Anschließend an das (An-)Erkennen von Unterschieden, Parallelitäten und Gemeinsamkeiten unserer Erfahrungen haben wir in unserem Beitrag für den Sammelband eine Typologie entwickelt und in Anlehnung an das Doing Gender Konzept den Begriff des Gender Forcing entfaltet. Der im Beitrag entwickelte Begriff des Gender Forcing setzt dort an, wo in unseren beruflichen Kontexten noch viel sensibilisiert werden muss und soll dazu beitragen, die Wirkmacht von Genderkonstruktionen in Forschungsprozessen bzw. generell in Arbeitszusammenhängen systematisch sichtbar, erfassbar und forschungspraktisch relevant zu machen (Unser Beitrag wird im Frühjahr 2024 veröffentlicht).
Wir freuen uns auf die weitere Diskussion zu diesem Thema!
Gezeichnet, das Autorinnenkollektiv:
Lene Baumgart, Kata Braunsmann, Alice Melchior, Jasmin Schreyer, Regina Wittal