SPP publiziert
Von der beruflichen Bildung zur beruflichen Qualifikation?
von Manuel Nicklich
Die Kritische Theorie hat stets danach gefragt, inwieweit Bildung zu einem erfolgreichen Leben beitragen und der technokratischen Deformation des Lebens entgegenwirken kann. Mit Blick auf diese Frage ist gerade vor dem Hintergrund der digitalen Transformation eine kritische Lesart der Beziehung zwischen beruflicher Bildung und dem Konzept der Employability zu entwickeln. Im Zuge der digitalen Transformation wird demnach debattiert, was als angemessene oder notwendige Bildung gilt. In politischen wie wissenschaftlichen Debatten wird dabei immer wieder die Notwendigkeit einer auf digitale Veränderungen ausgerichtete Employability hervorgehoben, die versucht, Beschäftigungsmöglichkeiten zu erhalten, indem sowohl digitale Komponenten in Lehrpläne integriert werden als auch Wissen über digitale Tools wie interaktive E-Learning-Plattformen oder Lernmanagementsysteme vermittelt wird. Mit der beruflichen Bildung als dominierendem System zur Strukturierung von Qualifikation wird häufig die Meinung vertreten, dass die Einbeziehung digitaler Elemente in die berufliche Bildung rational ist, da sie Fortschritt realisiert – sowohl für die Wirtschaft als auch für einzelne Arbeitnehmer*innen.
Entscheidend ist jedoch, welcher Rationalität dabei gefolgt wird. Nach der Humankapitaltheorie gibt es eine lineare und identische Entwicklung von wirtschaftlichem und individuellem Fortschritt, in der ungleiche soziale Bedingungen weniger bedeutend erscheinen als individuelle Präferenzen und Entscheidungen. Wenn der Fortschritt eines Individuums – und damit die Beschäftigungsfähigkeit – ausbleibt, kann dies nur auf seine unterentwickelte Marktorientierung zurückgeführt werden. Im Gegensatz zu diesem Ansatz zielt die Kritische Theorie darauf ab, Pathologien zu identifizieren und Irrationalität innerhalb des Fortschrittsgedankens selbst zu überdenken. Dies scheint im vorliegenden Fall vor allem deshalb geboten, da Bildung und Digitalisierung fast automatisch mit Fortschritt assoziiert werden.
Da die berufliche Bildung in Deutschland eine zentrale Rolle spielt und mit wichtigen wirtschaftlichen und insbesondere sozialen Fragen der deutschen Gesellschaft verbunden ist, lohnt es sich jedoch zu fragen, wie viel „Bildung“ unter den Bedingungen einer digital orientierten Employability in der beruflichen Bildung noch übrigbleibt. Denn mit dem Anspruch des Konzepts der Employability „to design effective training programs (…) [for] employees in order to manage their professional development“ (Gianecchini et al. 2022, S. 86) wird Bildung auf Fragen der Anpassung reduziert. Konkret bedeutet dies, in verschiedenen Lebensbereichen eine Orientierung an Effizienz, Effektivität und Produktivität anzunehmen, während das Denken in Alternativen dazu verschwindet oder als völlig absurd empfunden wird. Diese Hyperanpassung im digitalen Zeitalter, die nicht über das bereits Vorhandene hinausweist, kann als charakteristisch für das angesehen werden, was Adorno als „Halbbildung“ (Adorno 2020/1960) bezeichnet – d. h. die Umwandlung aller intellektuellen Inhalte in Konsumgüter. Anstatt eine Quelle des Wandels und der Innovation zu sein, verkommt auch die berufliche Bildung zu einer Agentur der Verwaltung. Aus der Perspektive der Kritischen Theorie stellt diese Anpassung eine rationale Irrationalität dar, in der die digitale Transformation als unvermeidbare Entwicklung angesehen werden, an die man sich zum Zwecke des eigenen Erhalts anpassen muss. Die Entwicklung des Subjekts als Aufgabe von Bildung oder der Status quo in der beruflichen Bildung werden nicht hinterfragt, im Gegenteil: Alles wird zu einem Mittel der Erhaltung. Bildung – einschließlich der beruflichen Bildung – ist eindimensional – ein Mittel zum Zweck.
Auch wenn die vorliegende Argumentation einen eher pessimistischen Grundton hat, möchte ich mich an dieser Stelle nicht dem technologischen Determinismus und der technokratischen Sichtweise der öffentlichen Debatte anschließen. Diese Sichtweise, in der Instrumentalität allumfassend ist und die Grundlage des kritischen Subjekts untergräbt, ersetzt Bildung im Sinne der Subjektentwicklung durch Qualifikation für die Marktgängigkeit. Das zugrunde liegende Argument richtet sich jedoch nicht einfach auf sich Ausschließendes. Vielmehr geht es darum, dass das Eine (Bildung) immer Spuren des Anderen (Qualifikation) in sich trägt, die interne Dynamik jedoch zu einer Umkehrung in ihrem Verhältnis führt: Die digitale Transformation und die darauf ausgerichtete Employability werden zum eigentlichen Ziel, während die berufliche Bildung zu einem Mittel zur Erreichung dieses Ziels degradiert wird. Trotz dieser Diagnose sollte jedoch folgende Aussage im Hinterkopf bleiben: „Despite […] deep pessimism about the future, the past could not offer a refuge from the present“ (Delanty & Harris 2021, S. 90). Das Argument zielt also nicht darauf ab, die Vergangenheit im Sinne von „früher war alles besser“ zu romantisieren. Stattdessen werden die inhärenten Antinomien in der Technologie im Zusammenspiel mit einer ausschließlichen Marktorientierung als das eigentliche Problem angesehen und bieten einen Zugang zu (wenn auch nicht notwendigerweise einen Ausgang aus) den beschriebenen Problemen einer sich verändernden beruflichen Bildung unter Bedingung digitaler Transformation.
Mit dieser Frage befasst sich der Text „Employability in Digital Times: How Instrumental Reason Contributes to the Conversion of Vocational Education“, der in Kürze in Research in the Sociology of Work erscheint.
Nicklich, M. (2025): Employability in Digital Times: How Instrumental Reason Contributes to the Conversion of Vocational Education in: Purser, G.; Delbridge, R.; Helfen, M. & Pekarek, A. (eds). Employability: Ideology, Policy, and Practice; Research in the Sociology of Work, Volume 37, p. 97–123.