Digitalisierung und tiefgreifender struktureller Wandel: Ist die Plattformisierung des Gesundheitswesens unausweichlich?
RWTH Aachen/Universität Münster
Projekthintergrund
Im öffentlichen Diskurs wird die Digitalisierung als Transformationsprozess verstanden, der alle gesellschaftlichen Bereiche tiefgreifend verändert. In der Arzneimittelversorgung als wesentliche Säule des Gesundheitssystems hat sich hier über Jahrhunderte eine tief verankerte institutionelle Struktur entwickelt. In ihrem Mittelpunkt steht die institutionelle Trennung der Berufe von Arzt und Apotheker. Aktuell werden Plattformen aufgebaut, die die medizinische Beratung und die Versorgung mit Medikamenten aus einer Hand anbieten, um so die Integration von pharmazeutischen und medizinischen Dienstleistungen zu unterstützen; in diesem Zusammenhang wird die Aufhebung der „historischen Trennung“ der beiden Berufe gefordert.
Die Plattformisierung der Arzneimittelversorung erscheint zunächst als zwangsläufiges Ergebnis der digitalen Transformation. Im Verlauf der europäischen Geschichte wurde die institutionelle Trennung der beiden Berufe immer wieder angefochten, konnte aber dennoch aufrechterhalten werden.
Die Arzneimittelversorgung ist damit als „kritischer Fall“ vielversprechend für die Untersuchung digitaler Transformation, da er eine langfristige Betrachtung von Mechanismen und Dynamiken des gesellschaftlichen Wandels erlaubt.
Fragestellung des Projekts
Kann sich der Bereich der Arzneimittelversorgung der Plattformisierung entziehen? Wenn ja, was sind die Quellen einer solchen Widerstandsfähigkeit?
Wenn nicht, wie wirkt sich dies auf die institutionelle Tiefenstruktur des Bereichs aus?
Empirisches Vorgehen
In diesem Projekt werden drei Perioden untersucht, in denen die Organisation der Arzneimittelversorgung erhebliche Veränderungen erfahren hat. In der ersten Periode (1800-1850) erreichte die gemeinsame Praktik von Apothekern und Ärzten bei der Formulierung komplexer Arzneimittel, die sogenannte Rezeptierkunst, einen Höhepunkt innerhalb der Grenzen der institutionellen Trennung der beiden Berufe. In der zweiten Periode (1910-1938) wurden die Krankenkassen zu einer Vorform der modernen Plattformen, indem sie Apotheker und Ärzte unter Vertrag nahmen, strenge Beschränkungen für die zu verschreibenden und abzugebenden Arzneimittel auferlegten und die Preise mit den Apothekern aushandelten.
Dies führte zu einer vollständigen Trennung der beiden Berufe in dem Sinne, dass die gemeinsame Praktik der Arzneimittelherstellung verloren ging. In der dritten, der aktuellen Periode (2010-2025) hat sich erneut die Möglichkeit ergeben, eine gemeinsame Praktik zu entwickeln, die die Berufe von Apothekern und Ärzten wieder näher zusammenbringt, nämlich das Medikationsmanagement.
Prof. Dr. Kai Reimers
RWTH Aachen
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften
Dr. Stefan Schellhammer
Universität Münster
Institut für Wirtschaftsinformatik
Dr. Marie Borchers
RWTH Aachen
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften
Dr. Christina Linzbach
Universität Münster
Dr. Kerstin Stowasser
Universität Münster